Kreative Rezeption
Selbsterfahrung durch Kunst –
eine kurze Darstellung der Methodik
Die Kreative Rezeption ist eine Methodik für kreative Gruppenarbeit mit Literatur, Malerei und Musik.
Kunstwerke wirken unmittelbar in die Erfahrungswelt des Betrachters hinein. Sie können die Wahrnehmung sensibilisieren und Erinnerungen, Phantasien, Konflikte oder Haltungen wachrufen bzw. bewusst machen. Bei der Kreativen Rezeption werden eigene Erfahrungen für ein intensiveres Verständnis von Kunstwerken genutzt. Die Verschränkung von Rezeption und eigener Produktivität findet in einer Gruppe statt, das Konzept bewegt sich also in den Dreiecken:
- Rezeption – eigene Produktivität – Gruppendynamik
- Kunst – Ich – Gruppe
- Sachebene – Ich-Ebene – Verbindungs-/Vermittlungsebene
Bei der Kreativen Rezeption wird ein Kunstwerk nicht wie üblich aus einer passiven Haltung heraus rezipiert. Der Gruppenleiter arbeitet mit allen Gegenständen des künstlerischen Handelns. Zu Texten, Bildern, Szenen und Musik schreiben die Gruppenmitglieder nach methodischen Vorgaben eigene Texte, sie spielen Szenen, bauen Standbilder, assoziieren, collagieren, sie improvisieren musikalisch, malen, erzählen, filmen, etc., um so intensiv und ungestört in das Kunstwerk hineinzukommen und innere Bilder nach außen zu kehren.
Um eine ganzheitliche Beschäftigung mit dem Kunstwerk zu erreichen, stellt der Gruppenleiter den Teilnehmern eine kreative Aufgabe, die auf das Kunstwerk bezogen ist und ein konkretes Produkt zum Ziel hat. Die kreativen Aufgaben verlangen von den Teilnehmern konkrete, teils handwerkliche Tätigkeiten, die es ihnen ermöglichen, sich längere Zeit auf das Kunstwerk einzulassen, ohne dabei in rein intellektuelles Analysieren zu verfallen.
Über die die Offenheit eines Werkes, die sog. Leerstelle, wird die eigene Imaginationskraft aktiviert. Leerstellen eröffnen einen Auslegungsraum, sie sind ein Beteiligungsangebot an den Rezipienten. Das Werk selbst fordert durch diese Unbestimmtheit unterschiedliche Sichtweisen heraus. Wenn diese explizit gemacht werden, können suggerierte Ansichten aktualisiert und konkretisiert werden.
Der Betrachter muß Stellung beziehen und einen Teil seiner Assoziationen und Erinnerungen mit hineingeben, wenn er ein in sich geschlossenes Produkt zustande bringen will. Die möglicherweise für manche Gruppenmitglieder problematische Gefühlsebene wird dadurch relativiert, dass die Erfahrungen keine aktuellen sind, sondern durch das vorgegebene Kunstwerk abgerufen werden. So wird in sicherer Distanz ein neuer, aktueller Umgang mit ihnen ermöglicht, denn faktisch bildet die eigene Erfahrung ja nur den meist unreflektierten Hintergrund der Produktivität, welche in der Welt des Kunstwerkes mit fiktionalen Rollen geschieht. Auch das spielerische Ausprobieren von Antworten ist in diesem Schutzraum möglich. Die kreative Arbeit ist also nicht Selbstzweck, sondern eingebunden in ein übergeordnete Ziel: Wahrnehmung kommunizierbar machen.
Die Präsentation der im Kurs entstandenen Werke verlangt nach einem ausführlichen Gruppengespräch. Hemmungen können entstehen, wenn der Teilnehmer befürchtet, sein Produkt sei nicht gut genug, er habe „das Thema verfehlt”, sein Produkt sei zu persönlich oder allgemein durch Angst vor Kritik. Wenn es in dem Gespräch nicht um »besser« oder »schlechter«, um »richtig« und »falsch« geht und der Gruppenleiter es schafft, alle Produkte als authentische Aussagen und Dokumente der je individuellen Rezeptionsprozesse gelten zu lassen, so kann die Veröffentlichung der verschiedenen Produkte eine sehr große Bereicherung für alle Teilnehmer sein.
Die dann entstandene Offenheit kann die Teilnehmer aufmerksamer und offener gegenüber dem Ausgangskunstwerk machen, auf welches der Gruppenleiter nach dem vergleichenden Gespräch in einem dritten Schritt zurückkommt. So wird das Basiswerk nach dem Zugang über Impression und Empfindung wieder mit dem rationellen Denken verbunden. Der Gruppenleiter vermittelt nun Sachinformationen zu dem Werk. Das Ziel der Kreativen Rezeption ist also nicht einfach ein gefühlsmäßiger Umgang mit Kunst, sondern ein ganzheitlicher Zugang.
geschrieben Juni 2000
überarbeitet April 2006